aus: frühlingsorakel (nanuskripte 240 & 243; kookbooks, 2026/27)

blauregen

der duft, der mit dem morgen ins fenster
tritt, zwischen

aprilstimmen, frühlingslärm
ist ein omen für die verschwendung

mein paradies, seide, ein omen
auf einen prinzentag

dies ist der tag meiner inthronisierung.
ich bin ein verwandter

des himmels – meine farbe ist die
deiner augen

tausend azurfarbene leuchter
in meinem grünen palast

während du immer verstört bist, zu leicht
für die welt, bin ich

eine handlung der erde, ihr
werden – warum

willst du dich spiegeln? dieses blühen
glaubst du

es tat nicht weh – das ausgreifen jeden tag
in die fülle

leere, das wachstum in die terra nulla
des hinteren hofs

hier enden die ähnlichkeiten

ich will nichts, ströme duft in den frühling
keine augen

das blühen, es kam plötzlich über mich

 
 
 

fortuna primigenia

ich bin überall, du kannst mich immer fragen
ich bin in jeder pflanze. jedem stein.

all der trost, mein architekt
ich steig mein leben lang die stufen

die ich nicht sehen kann und nicht
die hufe, stiefel, kiesel über mir und nicht

wie sich hoch oben steine lockern
im fliehenden dach, im haus, auf dessen treppen

du schwindlig stehst und dessen ein
und ausgang du nicht kennst

das mit mir wächst und fällt und wächst
– wärme, wieder, ist das noch sonne

oder schon feuer, wieder, duft –
ich klettre, wachse, langsam, stufen hoch

die an den seiten auseinander streben
nachts siehst du mich, beinah, ich bin der wind

der durch die eingestürzten korridore geht
ich bin die luft, der zug und wahn in deinen räumen

der helle dunkle rand des wachen grübelns
und deine träume reißen meinen langsamen wuchs, meine gespinste
unverhofft hoch –

ich bin der tau, am morgen auf der tiefen wiese
ich bin der honig, der aus den olivenbäumen fließt
ich bin das wunder, bitter, das du siehst
 
 
 

wegwarte

frag die pflanzenuhr weiß, ob die zerbrochenen mondschalen heilen

die am himmel liegen, system, das sich selbst wiederherstellen kann.

ihre wurzel reicht in die ägyptische schicht und von dort aus weiter

in eine welt fremder gedanken, wo die erde ätherisch wird

und du wieder sehen kannst, wie sie durch die raumzeit rast.

meist sind ihre blüten geschlossen.mit dem ersten licht öffnen sich

lauter kleine himmel, in der balance gehalten von gelenkigen stängeln

und kosmischen vitaminen. die farbe ist hell, klar, die des morgens

in dem sie sich spiegeln. sie kennt das verhältnis zwischen aufbruch

und rückkehr, weiß auch, dass du nicht lange zurückdenkst.

mut, sagt sie, mut.heute erst waren gärtner da

sensten ein paar meiner tausend blauen gesichte herunter

morgen werden ein paar tausend sagae aufgehen, sich wieder schließen

in deinem immerzu-fluchtgedächtnis.

 
 
 

am orakel, wieder

ein stein aus der mauer. er passt in deine hand
aus der zerstörten reticula gefallen

ein winziges teil aus einem weitgehend
unbekannten komplex. so funktioniert es:

hineingehen, einen stein mitnehmen
eine frage

hinausgehen, eine handvoll sand mitbringen
eine ahnung. auf schritte achten

sie zählen, nicht stolpern. bendate..

plötzliche furcht: wenn das erste wort, was du jetzt sagst
nein ist, werde ich nicht bestehen.

 

© Birgit Kreipe, 2024

 
 
 

aus: aire (kookbooks, 2021)

dafne (evolution der wegläufer)
mit Francesca Woodman (dafne)

1
alle zwischenwesen sind halbtote, tote.
reisen durch die ionisierte luft. durchlässig
bist du geworden, für gesichte
die knochen gespenstisch leicht. hast du je

etwas so glitzern, gleich wieder verschwinden sehen –
nur birkenreiser, im wind schwankend
zellulose, wasser und licht – oder ein mädchen
birkenhaut, manschetten, um die gelenke.

ob die birken wegläuferinnen sind
den wild- oder turnschuhwechsel hinab und angekommen
ob der wald ein einziger hinterhalt –

oder ist der wald der verfolgte
und du hast die angst erst eingeschleppt
aus nachrichten, aus archaischen träumen –

und wieder bäume.
farn, wie über dem grab. totes gewebe.
demenzen. das mädchen hebt die arme
geneigt wie erdachsen, wie birken.

2
wer rief: bewohner von wolkenschichten.
sylphen, fraktale. drei birken, wächterinnen
am eingang zur pflanzenzeit. hier lädt die luft
sich mit sauerstoff, pollen, mit niesen auf.

erschöpfung. heimliche drift von wut
in zucker- und lichtgedanken. nur noch
y sein, beim geysterfest. blätterschatten
bekleiden dich, text spinnt dich ein.

die arme kitzeln, unter der erde das wurzel-
gedächtnis stößt wohl auf wasserläufe, geschichten.
ein klopfen, hufe – oder ein puls. trittst

auf tausend dendriten, haarfein
von organismen durchwimmelt
von stimmen. als das urteil gefallen ist

heiterkeit, normal wie tee aus rinden.
bast. kurz scheint dein makel auf, wolken –
wie augenweiß, verdreht. den körper .
nicht haben wollen. die scham.

3
kein gedanke an rückweg. ein ziehen, wind
dein bewusstsein in ringen, splittern, du willst
wieder aufstehen, bist dissoziiert
überhaupt, wer läuft da, läuft von sinnen –

schnürsenkel, die sich verfangen, turnschuhe
baumeln an ästen. wind als verfolger, fünfköpfig
stoppt dich mit einer hand. wolltest du
ins zitronenland? spür, wie du wächst

nur ein zittern der obersten blätter, gemurmel
im schlaf. dann sinkt die luft wieder zurück
muskeln erschlaffen, lücke, aus der sich augenweiß

löst, winzigkeit, flatternd, von zweig zu zweig
– das also war deine angst. das holst du
nicht wieder ein. alle zwischenwesen sind tote

halbtote, wollen dir gutes.
streifen dich fast.
die arme spürst du nicht mehr, farne kitzeln
der birkenwirkstoff. die rinde spannt.

© Birgit Kreipe

aire

 

daphne (evolution of a runaway)
with Francesca Woodman, Daphne

1
every intermediate being is halfdead, dead.
travels through ionized air. poriferous
is what you’ve become, for visions
the bones ghostly lightweight. have you ever

seen something sparkle like that before disappearing again—
only birch sprigs swaying in the wind
cellulose, water, and light—or a girl
birch skin, cuffs around the joints.

whether the birches are runaways
down the deer and sneaker crossing and safe
whether the forest is but a single ambush—

or is it the forest that’s being pursued
and you are the one who introduced anxiety
from the news, from archaic dreams—

and trees again.
ferns, like above graves. dead tissue
dementias. the girl raises her arms
bent like the earth’s axes, birches.

2

who called: inhabitants of cloud strata.
sylphs, fractals. three birches, guardians
at the gateway to the era of plants. that’s how the air
becomes charged with oxygen, pollen, and sneezing.

exhaustion. surreptitious drift from rage
to sugar thoughts and those of light. only being
the æ at the banquet of gæsts. dressed
in the shadows of leaves, spun into dense text.

the arms tickle, beneath the earth the root
memory probably comes across watercourses, stories.
a knocking, hooves—or a pulse. you step

on a thousand dendrites, fine as hair
swarming with organisms
with voices. when the verdict’s in

exhilaration, as normal as tea from bark.
liber. briefly your blemish lights up, clouds—
a rolled white of the eyes. not wanting
to have this body. the shame.

3

no thought of going back. a tug, wind
your consciousness in rings, splinters. you want
to get up again, are dissociated
after all, who’s running there, running like a lunatic—

shoelaces that become entangled, sneakers
dangling from branches. wind’s a persecutor, five-headed,
stops you with a single hand. did you want to
go to the lemon tree land? feel how you grow

only a trembling of the topmost leaves, murmuring
in sleep. then the air sinks back down
muscles slacken, gap, from which the white of the eye

dissolves, itty-bitty, fluttering, from twig to twig
—so that was your fear. you won’t
catch it again. all intermediate beings are dead

halfdead, they wish you well.
almost graze against you.
you can’t feel your arms anymore.
the birch’s active ingredients. the bark strains.

Translated by Shane Anderson

 

der dezember ist ein nashorn

der dezember ist ein nashorn.
gewaltig steht er im knochenlicht der gräser und sträucher
die lauscher sind aufgerichtet, der knubbelige panzer
in falten. blinzeln, blitzen aus wulstigen lidern.

kopfweiden tragen ein rotgelb
das brennt in der kälte, und die dünnen zöpfe der trauerweide reichen
in die leeren, glänzenden spiegel der kiesteiche.

goldpuder in den wolken.
überall auf der erde streut laub: zimtkekse. totenschädel.
wasser, blank wie augen.

eine wintersavanne.
das nashorn steht ganz still.
sein panzer hüllt das seelchen ein.

verteidigt er meine neue freiheit?
sucht er liebe?
sollen wir die bäume ringsum mit lichterketten behängen?

während er dasteht und wartet
kommen tausend hellblau-rosa schmetterlinge und vögel und
setzen sich in den horizont.

das schilf: als leuchtete es von innen
und die schneebeeren schwanken noch.
es sind alte männer und frauen!
sie sind das publikum.

© Birgit Kreipe

aire

 
 
 

december is a rhino

december is a rhino.
colossal it stands there in the bony light of grasses and shrubs
ears at attention, the knobby armor
wrinkly. blinking, twinkling under bulging lids.

pollard willows wear a reddish yellow
that burns in the cold, and the weeping willow’s thin braids reach
into the empty, gleaming mirrors of gravel-bottomed ponds.

gold dust in the clouds.
everywhere on earth is leaf-strewn: cinnamon snaps. skulls.
water, blank like eyes.

a winter savanna.
the rhino stands utterly still.
its armor encasing its little soul.

is it defending my new freedom?
searching for love?
should we drape fairy lights around the trees?

as it stands there waiting
a thousand sapphire and pink butterflies and birds arrive and
land on the horizon.

the reeds: as though glowing within
and the snowberries are still tottering.
they are old men and women!
they are the audience.

Translated by Jake Schneider

 
 
 

aus: SOMA (kookbooks 2016)

san clemente

eine kirche

darunter noch eine kirche

darunter ein knochenharter tempel.



jede schicht ein eigener traum, und

sie träumen voneinander, übereinander

gestapelt, in einer:



das leid katharinas, erleuchtet

nur vom wahn ihres heiligenscheins.

vektoren, ihr goldener spin zwischen aura



und byzantinischem jenseits der kuppel.

folterträume, wie aus dem zauberkasten

der depression. verklärung, ein paradies



nur für sekunden. ein zeiger bewegt sich

aus der wand brechen blumen

wuchern, flüstern – sind schon zertreten.



du mit dem wischmopp, dem eimer

siehst du, wie sich am fuß der wand

ein fluss teilt, gleich hinter den alten göttern?



ja, es soll immer hoffnung sein

schimmer auf wasser, dein spiegelbild.

unter der kirche ist noch eine kirche

und darunter ein knochenweißer tempel

und darunter ein haus, alles vergessen

und darunter die hölle. oder ein brunnen. 

© Birgit Kreipe

SOMA
 
 
 

der himmel ist ein blauer hund

asche ist das größte gespenst: massa confusa, pure demenz*. siehst gerade noch
schemen zum hafen rennen, obwohl da kein hafen mehr ist. alle stürzen gleichzeitig los.
alle stürzen gleichzeitig hin. die hunde bellen den kaiser an. weil der kaiser niemals
kommt. der arme tempel, und die armen wände. myriaden teilchen, worte geistern
durch fresken. gesträubtes blau, mit pfoten aus licht, einem maul aus beeren und erde
bewacht die nervöse villa. der mond der mond geht im portikus auf säulen aus wider-
schein/licht. teleskopohren richten sich auf: du rumpelst in einem milchwagen.
deute dieses verströmen.

© Birgit Kreipe

SOMA